Reihe „Lies, was dich begeistert“: Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral

Ein Beitrag von Dr. Ingo Köster

Wer sich dafür interessiert, welche basalen Eigenschaften uns Menschen eint und woher diese anthropologischen Konstanten herrühren, wer also über die Gründe des eigenen Denkens und Handelns vor dem Hintergrund von Wertvorstellungen mehr erfahren will, dem empfehle ich das Buch “Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral” von Michael Tomasello.
Tomasello wagt sich als Evolutionsbiologe und Verhaltensforscher an nichts weniger als an das große Thema der Moral. Der Autor entwickelt auf der Grundlage von eingehend und anschaulich beschriebenen Experimenten mit unseren biologisch nächsten Verwandten, den Affen, sowie mit Kleinkindern und unter Hinzuziehung von archäologischen Funden aller Art ein im Kern einfaches Modell, das beschreibt, wie wir Menschen von der Mutter- und Verwandtenfürsorge über die Arbeitsteilung beim Jagen, Sammeln und Verteidigen Regeln zum gegenseitigen Umgang entwickelt haben, die über die Festsetzung von verbindlichen Werten in festgeschriebene Normen und hochkomplexe Moralvorstellungen gemündet sind.

Die Wurzeln der Moral sieht Tomasello in der gemeinsamen Nahrungssuche. Der Mensch war während seiner Evolution beim Jagen und Sammeln auf die Zusammenarbeit mit Artgenossen angewiesen. In diesem Punkt unterscheiden wir uns von fast allen anderen Primaten, speziell unseren nächsten Verwandten. Zwar jagen auch (Menschen-)Affen manchmal gemeinsam ein Beutetier, aber sie hängen nicht von der Gruppenjagd ab. Der größte Teil ihres Speiseplans besteht aus Früchten und Insekten, die sie individuell sammeln. Der Mensch dagegen kann die Nahrungssuche nicht allein bewältigen, für ihn heißt es: „zusammenarbeiten oder verhungern“. Diese als „zweitpersonale Moral“ bezeichnete Anschauung von der kooperativen, sich ergänzenden Arbeitsweise ist zumindest ab einer frühen evolutionären Ausprägung des homo erectus angeboren. Der Mensch hat ein natürliches Interesse am Wohlergehen seiner Kooperationspartner, denn er hängt von ihnen ab. Entscheidend dabei ist, dass bereits der frühe Mensch über ein Bewusstsein verfügt, das es ihm erlaubt, sowohl die eigene Abhängigkeit von anderen in der gleichen Gruppe zu erkennen als auch sich gleichzeitig in die Bedürfnisse und Absichten dieser anderen, zumindest rudimentär, hineinzuversetzen. Situative Veränderungen bei der Jagd können blitzartigen Rollentausch erfordern, ohne dabei das Gesamtziel aus den Augen zu verlieren. Der frühe Mensch ist mit seinem strategisch-adaptiven Verhalten darauf vorbereitet. Erst die kognitiven Voraussetzungen ermöglichen also erfolgreiche Kooperation („kooperative Rationalität“, „geteilte Intentionalität“). Die natürliche Selektion hat den Menschen daraufhin getrimmt, als ein „wir“ zu handeln.

Seine Idee untermauert Tomasello mit zahlreichen Experimenten, in denen er das Verhalten von Menschenaffen mit dem von menschlichen Kleinkindern vergleicht. Da Kleinkinder noch wenig durch Kultur geprägt sind, schließt er aus ihrem Verhalten eher auf genetische Dispositionen und damit anthropologische Konstanten. Nur Menschen können „gemeinsame Ziele“ bilden und zum Erreichen dieser Ziele individuelle, voneinander abgegrenzte Rollen einnehmen, also zielgerichtete Arbeitsteilung vollziehen. Nur Menschen teilen Beute von sich aus gerecht. Schon Kleinkinder protestieren, wenn ein Partner eine gemeinsame Verpflichtung bricht, ein Verhalten, das Affen völlig fremd ist. „Menschen sind in einer Weise biologisch an die Zusammenarbeit angepasst, wie das für andere Menschenaffen nicht gilt“, bilanziert Tomasello.
Auf die zweitpersonale Moral der Frühmenschen folgten laut Tomasello dann an der Großgruppe orientierte, Allgemeingültigkeit beanspruchende, regelgeleitete Verhaltensnormen, die, gestützt auf das Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeiten, auf Fairness beruhen. Es entsteht Moral. Sie weist über das Verhältnis zu einem einzelnen Partner oder innerhalb einer kleinen Jagdgruppe weit hinaus, weil sie übergeordnet, parteilos ist. Durch die größenmäßig sehr begrenzten Lebensgemeinschaften in der menschlichen Frühphase entstehen so unterschiedliche Vereinbarungen zum gemeinschaftlichen Zusammenleben. Genau darin ist der Nukleus von (unterschiedlicher) Kultur zu sehen.
Die Grundlage einer allgemeingültigen, bisweilen abstrakten Moral, die auch dann vermittelt wird, wenn gerade kein akuter Streitfall vorliegt oder Handlungszwang besteht, spiegelt sich auch in der Entwicklung des einzelnen Menschen heutzutage wider. Bereits Kleinkinder werden von ihren Eltern und anderen Personen in ihrem Umfeld mit Normen und Handlungsmaximen konfrontiert. Anhand von Verhaltensstudien mit Vorschulkindern zeigt sich, dass sie bereits Normen gegenüber Dritten durchsetzen und absichtlich andere bestrafen, die Dritten Schaden zufügen. Und sie bevorzugen Personen, die soziale Normen durchsetzen gegenüber denen, die es nicht tun. Erst Kinder im Vorschulalter, im Gegensatz zu Kleinkindern, verstehen soziale Normen als geteilte Erwartungen der sozialen Gruppe. Kinder durchlaufen nach Tomasello in ihrer Individualentwicklung also genau jene zwei Stadien, die den Entwicklungsstadien der Moral im Laufe der menschlichen Evolution ähneln.
Moral bedeutet im Kern, Probleme und Konflikte ohne Macht und Gewalt nach vorher festgelegten Normen und Regeln zu klären. Nicht das Gegeneinander und Wettbewerb, sondern Kooperation und regelgeleitete Verhaltensabsprachen haben die Durchsetzung der Art Mensch begünstigt.

Das Buch liefert eine gut begründete Idee davon, warum der Mensch ein soziales Lebewesen mit Moral ist. Es ist darin nicht nur erhellend, weil es uns dabei hilft, unser eigenes Verhalten und den vielfach gehegten Wunsch nach mehr Kooperation und weniger Konkurrenzkampf zu reflektieren, sondern auch, weil man viel Wissenswertes über die Bedürfnisse von anderen Primaten erfährt. Es ist spannend zu verfolgen, was uns insbesondere von Menschenaffen trennt und was uns mit ihnen auch verbindet.

Eine Naturgeschichte der menschlichen Mora
Titel: Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral / Michael Tomasello; aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder
Zitierlink zu diesem Titel: http://www.digibib.net/permalink/467/UBSI-x/HBZ:HT019073970

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